Ich bin auf eine Geschichte gestoßen, die sich gut für die besinnliche Zeit des Advent eignet – sei es zum Vorlesen im Seniorenclub oder bei der Seniorenehrung oder auch bei anderen Kreisen. Mich regt diese Geschichte an, darüber nachzudenken, wie ich meine Zeit gebrauche:
Viel Zeit liegt vor uns. Er gibt uns diese Zeit, Hunderte von Tagen, Tausende Stunden – allein in diesem Jahr. Wie sehr werden wir immer wieder von Gott reich beschenkt!
Nur: Wie oft sagen wir gerade das Gegenteil: «Ich habe zu wenig Zeit. Die Zeit ist knapp.» Oder, noch drastischer: «Dafür habe ich leider überhaupt keine Zeit.» Leider auch des öfteren: «Keine Zeit mehr für Gott.»
Und so geschah eines Tages Folgendes: Besorgt meldeten die Engel dem Schöpfer, dass die Menschen fast gänzlich aufgehört hätten zu beten. Daraufhin beschloss der himmlische Rat, die Ursachen durch eine Schar von Engeln untersuchen zu lassen.
Diese berichteten folgendes: Die Menschen wissen um das Fehlen ihrer Gebete und beklagen es. Aber leider hätten sie trotz ihres guten Willens einfach keine Zeit zum Beten. Im Himmel war man verblüfft und erleichtert: Statt des befürchteten Abfalls handelte es sich also nur um ein Zeitproblem!
Die himmlischen Räte überlegten hin und her, was zu tun sei. Einige meinten, man solle durch entsprechende Maßnahmen das moderne, hektische Leben abschaffen. Eine Gruppe schlug sogar eine Bestrafung des Menschengeschlechtes vor: «Das wird schon seine Wirkung tun», sagten sie und verwiesen auf die Sintflut.
Das Ei des Kolumbus aber fand ein junger Engel: Gott solle den Tag verlängern! Zur Überraschung aller war dieser einverstanden. Er schuf eine 25. Tages-Stunde.
Im Himmel herrschte Freude: «So ist Gott eben», sagte man, »Er hat Verständnis für seine Geschöpfe.»
Als man auf der Erde zu merken begann, dass der Tag eine Stunde länger dauerte, waren die Menschen verblüfft und, als sie den Grund erfuhren, von Dankbarkeit erfüllt. Erste Reaktionen waren vielversprechend: Es werde zwar einige Zeit dauern, so hörte man aus informierten Kreisen, bis die Anpassung vollzogen sei, aber dann werde sich alles einspielen. Nach einer Zeit vorsichtiger Zurückhaltung ließen die Bischöfe verlauten, die 25. Stunde werde als «Stunde Gottes» in das Leben der Menschen eingehen.
Im Himmel wich die anfängliche Freude bald der Ernüchterung. Wider alle Erwartung kamen im Himmel nicht mehr Gebete an als bisher, und so sandte man wiederum Boten zur Erde. Diese berichteten:
Die Geschäftsleute ließen sagen, die 25. Stunde – für die man sich durchaus zu Dank verpflichtet sehe – habe durch die Umstellung der Organisation Kosten verursacht. Durch erhöhten Einsatz müssten diese Kosten eingearbeitet werden. Man bitte um Verständnis für diese Sachzwänge.
Ein anderer Engel war bei der Gewerkschaft. Erstaunt, aber doch höflich wurde er angehört. Dann erklärte man ihm, die neue Stunde entspreche eigentlich einer längst überfälligen Forderung der Gewerkschaft. Im Interesse der Arbeitnehmer müsse sie für die Erholung freigehalten werden.
In Kreisen der Intellektuellen wurde über die neue Stunde viel diskutiert. In einer vielbeachteten Gesprächsrunde im Fernsehen wurde vor allem darauf hingewiesen, dass dem mündigen Bürger niemand vorschreiben könne, was er mit dieser Stunde zu tun habe. Die Idee der Bischöfe, sie als «Stunde Gottes» im Bewusstsein der Menschen zu verankern, müsse als autoritäre Bevormundung zurückgewiesen werden. Im Übrigen sei die Untersuchung darüber, wie die neue Zeiteinheit entstanden sei, nicht abgeschlossen. Naiv-religiöse Deutungen aber könnten dem Menschen auf keinen Fall zugemutet werden.
Dem Engel aber, der zu den kirchlichen Kreisen gesandt worden war, wurde bedeutet, dass man ohnehin bete. Der Eingriff des Himmels, so sagte man, dürfe auf jeden Fall nur als ein Angebot verstanden werden, als ein Baustein der persönlichen Gewissensentscheidung.
Einige gingen noch weiter und sagten, aus der Sicht der kirchlichen Basis sei die ganze Angelegenheit kritisch zu bewerten: Die Zweckbindung der 25. Stunde zugunsten des Gebets sei eng und könne auf gar keinen Fall «von oben» verfügt werden, d.h. ohne entsprechende Meinungsbildung «von unten». Manche Pfarrer betonten, wie dankbar sie für die zusätzliche Zeit seien, deren sie dringend für ihre pastorale Arbeit bedürften. Und so hatten eigentlich fast alle einen Grund, warum die dazugewonnene Tagesstunde nicht dem Gebet gewidmet sein könne.
Einige Engel aber berichteten von Menschen, die die geschenkte Zeit wie jede andere Stunde ihres Lebens aus den Händen Gottes annahmen: Für ihre Aufgaben, für den Dienst an den Mitmenschen, für die Teilnahme an der heiligen Messe und – für das Gebet, für das sie jetzt noch leichter Zeit fanden als bisher.
Darüber waren die Engel freilich auch verwundert: Diejenigen, die die 25. Stunde tatsächlich in den Dienst Gottes stellten, waren dieselben, die schon bisher genügend Zeit zum Beten gehabt hatten.
So erkannte der himmlische Rat: Das Gebet ist eine Frage der Liebe. Zeit allein bringt kein Beten hervor. Diejenigen, die nicht beten wollen, werden auch mit einem längeren Tag «keine Zeit» zum Beten finden. Zeit haben, genau besehen, immer nur die Liebenden.
Daraufhin wurde beschlossen, Gott zu bitten, die 25. Stunde wieder abzuschaffen und auch die Erinnerung daran aus den Köpfen der Menschen zu löschen. Und so geschah es