Gedanken zur Fastenzeit 2021 – Großartigkeit

Am Palmsonntag ist Jesus (scheinbar) auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Die Massen jubeln ihm zu wie heute einem Popstar oder populistischen Führer. Wer würde sich da nicht mitreißen lassen?

Aber bald schon scheint es mit Jesu Großartigkeit nicht mehr weit her zu sein. Seine Gefolgschaft reduziert sich radikal. Erst auf zwölf, dann auf elf, dann bröselt es radikal. Am Schluss bleibt eine Handvoll Frauen übrig, die vorher gar nicht mitgezählt worden waren.

Wie schnell „Großartigkeit“ zerbröckeln kann, erleben wir auch in unseren Tagen. Wer nicht mehr an der Macht ist, verschwindet auch schnell aus dem Bewusstsein. Wer kein Forum in den „sozialen“ Netzwerken hat, gilt nichts (mehr). Wer kein Aufhebens um sich macht, der wird auch nicht beachtet. Das wirft die Frage auf, wer wirklich „großartig“ ist.

Vor einem Jahr hat man auf einmal die „systemrelevanten Berufe“ entdeckt. Das waren nicht die Politiker und auch nicht die Spitzensportler oder die Stars der Kulturszene. Das waren die Pfleger*innen, die Verkäufer*innen, die Erzieher*innen, die Lehrer*innen… Heute hört man diesen Begriff nicht mehr – und die Berufsgruppen machen auch keine Schlagzeilen mehr mit ihrer tatsächlich großartigen Arbeit. Höchstens noch dadurch, dass manche nicht mehr können und das Handtuch werfen. Dann erinnert „man/ frau/ Organisation“ sich, dass man/ frau/ Organisation ja die Attraktivität steigern wollte, die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen verbessern wollte, die Anerkennung steigern wollte.

Wirkliche Großartigkeit kommt also – so mein Verdacht – eher klein daher und unscheinbar. Das, was so großartig wirkt, ist in Wirklichkeit oft eher ziemlich armselig. Zumindest kritisch hinterfragbar.

In meiner Arbeit komme ich oft mit großartigen Menschen zusammen. Aber ich musste erst lernen, das wahrzunehmen. Diese Lektion habe ich einer besonderen Frau zu verdanken. Seither sehe ich großartige Menschen. Es sind Menschen, die ihr Leben in allen Schwierigkeiten in die Hand nehmen. Die manchmal brutale Lebenserfahrungen verdauen müssen. Die Tag für Tag kämpfen müssen mit den Rahmenbedingungen ihres Lebens. Die Tag für Tag ihre Aufgaben bewältigen.

Die oben erwähnte Frau, meine „Lehrerin“, hat erzählt, wie sie von ihre Suchterkrankung weggekommen ist, nämlich, indem sie ihre Lebensaufgabe gefunden hat. Auf meine Frage, worin diese Lebensaufgabe besteht (und ich habe mir etwas Großartiges erwartet), hat sie gesagt: „Meinen Körper zu pflegen, meine Wäsche sauber zu halten, mein Zimmer zu putzen …“ Das war – weil sie es lange nicht mehr praktiziert hatte – für sie unglaublich viel und auch schwer. Sie übt darin, sich selbst für einen wertvollen Menschen zu achten. Das ist, genau wie ihre Abstinenz, eine beständige Herausforderung.

Eine großartige Frau. Sie lebt unterhalb des gesellschaftlichen Radars. Niemand kennt sie.

Aber viele kennen Frauen (und Männer) wie sie.

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