Gestern hat ein Gericht zwei Ärzte freigesprochen vom Vorwurf, Patienten nicht geholfen zu haben, die ihr Leben nach großen und langandauernden Schmerzen freiwillig beendet hatten.
Ich habe gestern mal in die bundesdeutsche Statistik hineingeschaut. Ich wollte herausfinden, wie viele Menschen sich jährlich suizidieren. Dabei bin ich erschrocken. Denn die Statistiken zeigen, dass sich mit zunehmendem Alter immer mehr Menschen das Leben nehmen. Im Alter von 60 – 64 Jahren sind es ca. 15 Menschen pro 100 000 Einwohner. Diese Quote steigt dann an auf etwa das Doppelte im Alter von 85 – 89 Jahren und etwa genauso viele im Alter von über 90 Jahre. Diese Zahlen bewegen sich über die Jahre 2012, 2014 und 2016 auf annähernd gleichbleibendem Niveau.
Ich kann mir wohl vorstellen, dass unheilbare Krankheiten und/ oder starke dauerhafte Schmerzen den Wunsch, zu sterben, hervorrufen und verstärken. Zumal wenn sie – wie in der Presse über die konkreten Fälle berichtet wird – die Lebensqualität einschränken. Gerade das aber wirft bei mir Fragen auf: Was bedeutet „Lebensqualität“? Woran bemisst sie sich? Ist es möglich, dass sich diese Sichtweise verändert unter der Erfahrung von Einschränkungen?
Ich kann mir auch vorstellen, dass Schmerzen und unheilbare Krankheit nicht der einzige Grund für einen Suizid im hohen Alter ist. Vielleicht ist es auch die Erfahrung von Einsamkeit oder der Verlust eines Lebenssinnes oder das Gefühl, dem Leben keine schönen Seiten mehr abgewinnen zu können. Oder … oder … oder …
Dann lenke ich meinen Blick auch auf die Angehörigen und Freunde, Nachbarn etc. Was bedeutet ein Suizid für sie? Auch sie werden viele Fragen haben. Und Schuldgefühle. Und Ratlosigkeit. Haben wir was übersehen? Hätten wir was tun können? Was hatten wir für eine Beziehung, dass dieser Schritt erfolgt ist?
Als drittes blicke ich auf uns als Gesellschaft. Das Thema „Suizid“ ist weitgehend tabuisiert. Schambesetzt. Es ist schwer, darüber zu reden – ganz gleich, aus welcher Perspektive.
Wir spüren eine Grenze. Die Grenze des Sagbaren, die Grenze des Hörbaren, die Grenze des Spürbaren. Ich möchte einladen und bitten, sich tastend an diese Grenze heranzuwagen.
Vor Jahren habe ich mal ein Buch gelesen von Anne Christ-Friedrich: „Der verzweifelte Versuch, zu verändern.“ Dieses Buch betrachtet den Suizid aus der Perspektive eines Lösungsversuches und bringt so eine komplett andere Sichtweise ein. Der Mensch sucht eine Lösung für eine bestimmte Lebenssituation. Seine Strategie zur Veränderung hat „Erfolg“ – allerdings zu einem hohen Preis: dem Preis des Lebens. Vielleicht gäbe es andere Lösungsmöglichkeiten. Aber die kommen nicht (mehr) in den Blick.
Unter Umständen, vielleicht, möglicherweise (da bin ich jetzt sehr vorsichtig) eröffnen sich Perspektiven im tastenden, mutigen, sich den Grenzen anähernden Gespräch – persönlich, gesellschaftlich, kirchlich?