In den letzten Tagen bin ich auf ein Thema gestoßen worden, das ich vorher noch nie in diesem Zusammenhang gesehen habe: Am prägnantesten drückt das der Titel eines Buches von Hildegund Keul aus: „Weihnachten – das Wagnis der Verwundbarkeit“ (3. Auflage 2017). Sie schreibt:
„Wenn man den Blick auf die Frage richtet, wie Menschen mit ihrer Verwundbarkeit umgehen, dann verlieren die biblischen Geschichten ihre scheinbare Naivität. Die Krippe ist keine Idylle, keine Utopie einer heilen Familie mit schmückenden Accessoires wie sanftmütigen Hirten, jubilierenden Engeln, wunderschönen Frauen und reich geschmückten Königen. Vielmehr erzählen sie ergreifende Geschichten darüber, wie Gott und die Menschen mit der Verletzlichkeit humanen Lebens umgehen.“ (S.11)
Für mich selber ist seit vielen Jahren der Advent eine Zeit, in der das menschliche Leben mit seinen Schattenseiten und Tiefpunkten, mit seinen Krisen und Nöten in den Blick geraten ist. Nur auf diesem Hintergrund ist ja überhaupt die Sehnsucht der Menschen nach Heilung und Heil, personalisiert nach dem Heiland, verstehbar. Gerade der Blick auf all das im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben lässt die Tiefe der Weihnachtsbotschaft erspüren. In diesem Jahr 2020 habe ich nicht nur die Corona-Pandemie im Blick, sondern auch all die Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die durch Corona schärfer ins Bewusstsein geraten sind. Zugleich auch die Angst um die eigene Existenz (die kann ich verstehen!) oder auch nur um die eigenen Pfründe. Wir spüren deutlich, wie verwundbar unsere Existenz und das ganze System ist. Wir bemerken einerseits den Kampf für sich selbst (einzelne Personen bis hin zu einzelnen Staaten) und wir sehen andererseits auch die Hingabe und die Solidarität mit den „Vulnerablen“ (auch das ein Wort, das durch Corona ins Bewusstsein gespült wurde). Nochmals Hildegund Keul:
„Das Weihnachtsfest macht „Verwundbarkeit“ zum Schlüsselwort christlicher Gottesrede. Es handelt von Schwangerschaft und Geburt, Verfolgung und Flucht, Gleichgültigkeit und Wagemut, Gewalt und Engagement. Befragt man diese Geschichten danach, was sie in Fragen der Verwundbarkeit zu sagen haben, so erscheint das Weihnachtsfest in neuem Licht.“ (S. 11)
Mir scheint, wenn man das genau durchdenkt, könnte das Weihnachtsfest wirklich ein Anfang werden hin zu sozialer Solidarität (dieser alttestamentliche Begriff wird bei uns oft mit „Gerechtigkeit“ wiedergegeben) und einem geschärften Blick für die, die wirklich und tagtäglich „vulnerabel“, verwundbar, verletzlich sind: Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger, Geflüchtete, Gewaltbedrohte oder Gewaltopfer, …. Darum freut es mich, wenn bei der Verteilung der Impfstoffe ein Teil dieser Verletzlichen, nämlich die Hochbetagten und das Pflegepersonal, an die erste Stelle gesetzt werden – und das ohne ein Wort des Widerspruches.
Was bedeutet es also, wenn wir, die Gesunden und Gutsituierten, mit Blick auf diese Menschen hören: „Heute ist euch der Heiland geboren!“? Und zwar in der Gestalt eines kleinen, vulnerablen, verwundbaren, verletzlichen Kindes.