Vor etwa einem Jahr habe ich über den „Geist“ in unserer Welt nachgedacht. Für 2020 gilt eigentlich Ähnliches. Auch wenn wir in ganz anderen Zeiten leben. Gerade im sozialen Bereich haben sich unglaublich viele Menschen engagiert – und so das erlebbar gemacht, was wir Christen mit dem Heiligen Geist bezeichnen. Diese Menschen, seien sie nun Christen oder nicht, zeigen mir eine der wesentlichsten Seiten Gottes, nämlich seine Menschenfreundlichkeit.
Wir haben im Kleinen, im Persönlichen viel Engagement und soziale Verantwortung erlebt. Generationsübergreifend haben die Jüngeren den Alten geholfen in sehr praktischen Dingen wie Einkauf, Fahrdienste etc. Ältere haben vielleicht auch (obwohl das nicht so an die Öffentlichkeit gedrungen ist) Jüngeren mit ihrer Lebenserfahrung, mit ihrer Gelassenheit und auch mit dem freiwilligen Daheimbleiben geholfen. Sicher auch – zumindest familiär – mit Telefonaten, die bestimmt auch manchmal Entlastung bedeutet haben.
Pfingsten 2020 könnte aber auch einen Umbruch markieren. Einen Systemwechsel. Da wage ich jetzt mal eine Vision, obwohl (oder grade weil) im Moment überhaupt nichts dafür spricht. Auf politischer Ebene gab es lange Zeit großen Konsens bzgl. der notwendigen Schutzmaßnahmen. Und dann hat man staatlicherseits unglaublich viel Geld in die Hand genommen. Mir scheint grade im Moment das Finanzielle in der gesellschaftlichen Diskussion die Priorität zu haben.
Meine Vision wäre jedoch, einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen über die Werte, die sich in dieser Coronazeit als tragfähig erwiesen haben. Dazu gehören für mich eben die Solidarität, die Hilfsbereitschaft, die Verbundenheit quer durch alle Bevölkerungsgruppen. Anfangs gab es z. B. keine Diskussion mehr über Asylbewerber oder Ausländer. Auch die haben nach ihren Möglichkeiten angepackt. Die jetzt auf einmal als „systemrelevant“ entdeckten Berufe (interessant, wen man in dieser Liste nicht entdeckt, sich aber bisher als systemrelevant empfunden hat!) müssten ihren Wert auch materiell und in ihren Arbeitsbedingungen merken können. Zeigt sich die „Würde des Menschen“ / theologisch gesprochen: „die Ebenbildlichkeit Gottes“ nicht auch in seiner Unterbringung? Schauen wir solidarisch auf die Kinder in bildungsfernen Familien und geben in erster Linie ihnen die notwendige Unterstützung (oder fühlen wir uns benachteiligt, weil unsere „intelligenteren“ Kinder das nicht bekommen)? Die Liste der sozialen Brennpunkte ließe sich beliebig fortsetzen. Corona öffnet und schärft unseren Blick auf die Misstände unserer profitorientierten Gesellschaft.
Hier läge die Chance, hier wäre der Ort der Vision. Ich vermisse ein Wort der Kirchen. Ich vermisse das gerade zu Pfingsten, wenn wir uns an das Wirken der göttlichen Geistkraft erinnern. „Raus aus den beengten Räumen!“ – hieß es damals für die Jünger (und wohl auch Jüngerinnen). „Raus aus den beengten und beengenden Systemen!“ könnte es heute heißen (und damit meine ich nicht die Lockerungen im wirtschaftlichen Leben). Rein ins Leben der einfachen Leute! Rein ins Leben, dorthin, wo es weh tut! Rein ins Leben derer, die wir bisher nicht im Blick hatten!
Dann könnten wir sicher den lebendigen Geist Gottes erfahren im Jahr 2020.