Klage
Vor vielen Jahren habe ich eine Frau im Krankenhaus besucht. Sie hatte große Schmerzen und Angst. Unser Gespräch war sehr kurz. Oft nur ein Stöhnen durch zusammengebissene Zähne. Ich konnte da nicht viel sagen (auch nicht beten), aber meine paar Minuten der Anwesenheit waren für sie gut (hilfreich oder tröstend oder beruhigend?). Ihr Atem hatte sich beruhigt – trotz meiner Hilflosigkeit. Diese Frau hat mich etwas gelehrt:
Manchmal besteht das Gebet nur aus einem einzigen Laut oder einem Stöhnen. Wenn man Schmerzen hat, wenn einen die Trauer überfällt, wenn man in einer Depression steckt, dann ist man wohl nicht zu einem langen Gespräch mit Gott in der Lage, sondern nur zu einem einzigen Laut. Aber auch das ist Gebet, weil es die menschliche Lebenssituation ausdrückt und Gott hinhält.
In der Literatur, etwa den Psalmen, wird dieser eine Laut in die Länge gezogen und ausformuliert. Als Dichtung bringt sie in die Sprache, was sonst nur gestöhnt, gelitten, geklagt werden kann. Am eindrücklichsten ist dabei wohl Psalm 22, den wir am Karfreitag aus dem Mund Jesu hören: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“
Aber auch das ganze Buch Ijob stellt ein sehr beredtes Zeugnis für die Klage eines Menschen dar, der fast alles verloren hat.
„Hiob“ von Gerhard Marcks vor der Klarakirche in Nürnberg
Leider hat die Klage in unserer westlichen Tradition keinen großen Stellenwert. Klagen war verpönt als Zeichen von Schwäche. Stärke zu zeigen ist angesagt. So wurde aber auch der Zugang zur Klage als Gebetsform verbaut. Welch großer Verlust!
Klagen kann man nicht nur über die eigene Situation. Unsere Welt bietet vielfältigen Anlass zur Klage: über Corona (und andere Krankheiten) – über den Ukrainekrieg (und andere Kriege) – über die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei (und andere Naturkatastrophen) – über Ungerechtigkeiten in der Bildung oder in der Gleichberechtigung von Frau und Mann usw.
Klage gegenüber Gott könnte auch zur An-klage gegenüber Gott werden. Dass wir dazu ermutigt werden, ist eine der wichtigsten Botschaften des Buches Hiob und auch des sterbenden Jesus.
Mein Impuls für die kommende Woche: wo sehen Sie Anlass zur Klage? Und wie können Sie diese Klage ausdrücken?